Tagebau

Auf dem Weg nach Tzschelln

Tzschelln (obersorbisch Čelno, veraltet Třělno) ist ein ehemaliges Dorf in der Oberlausitz, 10 km südwestlich von Weißwasser. Der an der Spree zwischen Neustadt und Boxberg gelegene Ort wurde 1979 wegen des Braunkohlenabbaus durch den Tagebau Nochten devastiert.

Ich erinnere mich an einen Klassenkameraden. Er kam in der 3. Klasse zu uns. Es hieß, er kommt aus dem Dorf Tzschelln und er kommt von dort zu uns, weil von dort alle wegziehen müssen, weil das Dorf ´wegen der Kohle` wegkommt. Mit seinen Eltern wohnte er im Plattenbau. Er hieß Dieter Pötzschke.

So seltsam der Name des Dorfes sich für uns anhörte, so auffällig war dieser Junge für uns - zumindest was seine Kleidung betraf und das war für uns auffällig genug. Er ging in den Sachen eines Großvaters. Noch dazu waren diese sichtbar abgetragen. Anfangs sagte er kein Wort. Das war uns Anlass genug, ihn zu ärgern, seine Schulsachen in der Pause vom Tisch zu schieben - darauf zu warten bis er sich wehrte, damit wir über ihn herfallen konnten. Irgendwann brachte er von zu Hause stapelweise ungenutzte Flaschenetiketten mit - zeigte sie von seinem Platz aus herum und verschenkte sie an seine Mitschüler. Damit änderte sich unser Verhalten zu ihm und er begann zu uns zu gehören. Die Etiketten waren für Spirituosen bestimmt. Sie waren leicht angegilbt und hatten, obwohl noch ungenutzt, etwas altmodisch Vergangenes in ihrer Gestaltung und Farbgebung.

Mit meinem Vater unternahm ich zwei Jahre später einen Fahrradausflug von Weißwasser in das nunmehr leer stehende Tzschelln. Es war für mich als Kind damals eine ungewöhnlich lange Strecke; sie führte vorbei an dem unheimlichen sehr großen Altteicher Moor. 
Das erste Mal besuchte ich einen Ort, in dem keiner mehr lebt und der mir deshalb so erschien, als seien seine Bewohner alle nur mal kurz weggegangen.

Die Türen standen offen. In den Kellern stieß man auf stehengelassenes Eingewecktes. Doch schnell traten die Spuren der Zerstörung hervor. In den Häusern waren Schränke zusammengetreten worden. Wir begegneten Leuten, die in den Anhänger ihres Autos abgebaute Dachziegel packten. Wir freuten uns auf das Obst in den Gärten, das keinen Besitzer mehr hatte. Den langen Weg zurück musste ich laufen, weil mein Fahrrad, kurz nach dem wir wieder losgefahren waren, einen Platten hatte. 

Tzschelln1Tzschelln2Tzschelln2

„Der Ortsabbruch erfolgte 1979, verursacht durch den Tagebau Nochten. Die amtlich registrierte Umsiedlerzahl im Zusammenhang mit dem Ortsabbruch betrug 276 Personen. Als Ersatzwohnorte wurden Weißwasser sowie die Landgemeinden Boxberg, Schleife und Uhyst genannt. Von den 48 umgesiedelten Tzschellner Familien zogen 30 in ein gekauftes Eigenheim, 22 in eine Plattenbau-Neubauwohnung, und lediglich sechs bauten neu.“ 

Überliefert wird von diesem verschwundenen Dorf u.a. folgende Begebenheit: „Ende 1938 wird der Vikar Schoeneich von der staatlichen Aufsicht in Tzschelln angezeigt, als er in der Predigt vor Beteiligung an der Judenverfolgung warnte, die sich in Weißwasser mit Plünderungen austobte. Mit einer Verwarnung ging es für ihn noch gut aus.“

Innerhalb des reichen Schatzes an Sorbischen Sagen, spielte sich eine besonders „gehaltvolle“ Sage gleich in der Nähe des einstigen Dorfes ab. Held dieses unglaublichen Vorganges ist ein Lutki. Die Lutki sind eine der wichtigsten Figuren der Lausitzer Sagenwelt. Nach der Überlieferung leben sie als Zwerge außerhalb der Dörfer - kamen aber oft in diese, um sich etwas von den Menschen auszuleihen und sie so auf die Probe zu stellen. Sofern die Menschen freigiebig waren, erhielten sie dafür als Dank von den Lutki Geschenke. Die Lutki spielten den Menschen aber auch viele Streiche und wurden so zu Personifizierungen von Missgeschicken und unglücklichen Zufällen. Überwiegend waren die Lutki den Menschen aber freundlich gesinnt.

Eine andere Geschichte weiß zu erzählen, dass die Lutki kleine Menschen sind, die in der grauen Vorzeit in der Erde wohnten aber mit der beginnenden religiösen Herrschaft des Christentums, verstört durch den Klang der Kirchenglocken, in die Tiefen der Erde flüchteten. Nur ab und an tauchten sie plötzlich auf, um den Menschen Streiche zu spielen. Erhalten blieb ihnen aber die Unverträglichkeit gegenüber dem Läuten von Kirchenglocken. In der 1880 erschienenen Sammlung „Wendische Sagen, Märchen und abergläubische Gebräuche“ wird diese Tzschellner Sage wie folgt erzählt:

„Einst pflügte ein Bauer auf seinem Felde in der Nähe der Lutkiwohnungen. Er hatte seit frühmorgens fleißig gepflügt. Als es gegen elf Uhr kam, bemerkte er einen angenehmen Duft wie von frischem Gebäck. Gewiss, dachte er bei sich, haben die Lutki ein Fest und backen Kuchen; deshalb rief er laut: ,Wenn ich doch einen Kuchen hätte!` Es währte nicht lange, so kam ein Lutk, der brachte einen Kuchen und einen Krug mit Inhalt und sprach: ,Diesen Kuchen kannst du aufessen, doch muss er ganz bleiben; den Krug kannst du austrinken, berührst du ihn aber mit dem Munde, dann geht es dir schlecht.` Der Bauer war anfänglich ob solcher Rede ganz bestürzt; er pflügte noch einmal um den Acker. Als er aber wieder zurück an das Ende kam, fiel ihm etwas Gutes ein. 

Er setzte sich auf den Rasen nieder, nahm sein Messer und schnitt und aß den Kuchen aus der Mitte, den Rand jedoch ließ er ganz. Dann nahm er einen Strohhalm und trank durch diesen die Flüssigkeit im Kruge, ohne denselben an den Mund zu bringen. Mit dem Schlage zwölf erschien der Lutk wieder, raffte den Kuchenrand und den Krug hinweg und rief: ,Das hat dir der Teufel geraten!` Darauf lief er davon.“

In einer Chronik von 1924 heißt es über die Sorben, welche die überwiegende Mehrheit des Dorfes bildeten: „Die wendischen Bewohner betreiben etwas Landwirtschaft und arbeiten in der Fabrik oder als Forstarbeiter. Unter ihnen herrscht noch ein starrer Aberglauben. Tote stehen wieder auf, waschen sich daheim am Ofentopfe und durchwandeln die Stube. Am Nochtener Wege lauern böse Geister auf Vorübergehende und behaften diese mit Krankheiten. Kranke schicken ihre Strümpfe zu klugen Frauen und suchen dadurch Heilung.“

Rüdiger Bartsch

(Quelle: Verschwundene Dörfer im Lausitzer Braunkohlenrevier, Bautzen 2014, S.328 ff.)