Alle Texte: 
An das Herz
Anders gekommen
Auf dem Weg nach Tzschelln
Bäume
Der Wald im Kopf
 Die Uferschenke
Ein und Alles
Es ist schön
Häng den Kopf ins Wasser
Havelnacht
Ich höre meine Füsse
Ich suche Trost im Wort
Im alten Gasthausgarten
Kino nach Tisch
Lied am Rand
Onkel Gunter
Romanze am Elsterflutbett
Rückkehr
Schluss gemacht
Trödelmarkt
Verfallender Bahnhof
Verregneter Sonntag
Verschwunden
Was ich habe
Wir sitzen in den Autos

 Theodor Kramer  war ein Außenseiter – im Leben wie in der Dichtung. Zuerst und vor allem schrieb er Gedichte. Er schrieb über Außenseiter, über wenig und nicht beachtete Menschen, über die Sorgen und Freuden armer Leute, über Weinbauern, Tagelöhner, Mägde und Knechte, über Ausgestoßene; er widmete sich emphatisch subproletarischen und proletarischen Lebensweisen.

Er war kein Erneuerer oder, wie man sagt, Zertrümmerer klassischer Formen, er schrieb konventionelle Gedichte, meist vier-, fünf- oder achtzeilige Strophen – die Zeilen durch Reime miteinander verklammert. Das ganz und gar Neue und ungewohnte an ihnen war, dass er in einer bisher nicht bekannten Weise, einem packenden aber nicht expressionistischen Naturalismus, für den er aus den Wortschätzen der mündlichen Rede, der Alltagssprache und der Regionalausdrücke schöpfte, beschrieb, was er sah und dachte bzw. entsprechende Szenen und Bilder erfand – getreu den Worten Brechts: „die einfachsten Worte müssen genügen“.

Als junger Mann wanderte Theodor Kramer oft viele Wochen durch die eher herben als lieblichen Landschaften Niederösterreichs, durch das Weinviertel, durch das Burgenland, in die angrenzenden Regionen Ungarns, der Tschechoslowakei und Sloweniens. Er hielt sich mit Vorliebe auf in den Vorstädten, an den Stadträndern, in den Dörfern, an Bahndämmen, in Kneipen, in ärmlichen und in heruntergekommenen und anrüchigen Milieus. Er beschrieb sie, ohne zu beschönigen, mit nüchterner Genauigkeit - ohne Verachtung aber immer mit geradezu brüderlicher Hingabe.

Theodor Kramer wurde am 1.Januar 1897 im niederösterreichischen Dorf Niederhollabrunn als Sohn eines jüdischen Landarztes geboren. Er stirbt am 3.April 1958 in Wien, ein halbes Jahr nach seiner Rückkehr aus den langen zermürbenden Jahren des Exils in England.

Ich entdeckte für mich Theodor Kramer 1987 in Stephan Hermlins Buch Leküre. Unerhört erschien mir sein Gedicht: „Requiem für einen Faschisten“ - unerhört, weil ich las, dass er Jude war und er unter Ausgrenzung, Demütigung und Verfolgung im Austrofaschismus und dann, nach dem „Anschluss“ im März 1938 erst recht, zu leiden hatte - er es quasi in letzter Minute erst schaffte Österreich zu verlassen. Ein schmerzlicher Weggang. In seinem Gedicht „Andre, die das Land so sehr nicht liebten“ sagt er in der ersten Strophe: „ich doch müßte mit dem eignen Messer / meine Wurzel aus der Erde drehn“, und auch noch in der letzten Strophe lauten die letzten Zeilen: “mich samt meinen Wurzeln auszureißen / und zu setzen in ein andres Land.“ Über diese Wochen und Monate nach dem Einmarsch Hitlerdeutschlands finden sich in der von der Theodor-Kramer-Gesellschaft zusammen gestellten „Lebenschronik“ folgende auszugsweise zitierte Ereignisse:

30. Mai
Theodor Kramer und seine Frau müssen die Wohnung in Wien XIX., Kaasgrabengasse 19, verlassen und ziehen zu Theodor Kramers Mutter in die Goltzgasse 10. Auch der Bruder Richard wohnt nun hier.

17. Juni
Das Ehepaar Kramer stellt beim Generalkonsulat der USA ein „Ansuchen um Vermerkung zwecks Einwanderung in die Vereinigten Staaten von Amerika“.

12. Juli – 25. August
Theodor Kramer wird nach einem Nervenzusammenbruch von Freunden in ein Gartenhaus in Neustift am Walde bei Wien gebracht („Grünes Haus“, Wien XIX., Hameaustraße 38).

Um den 20. August unternimmt Theodor Kramer einen Selbstmordversuch.

24. August
Theodor Kramer widmet dem Arzt Dr. Bruno Frisch, der ihn behandelt, das Gedicht "Nach einem mißglückten Selbstmordversuch".

1. September
Theodor Kramer, seine Frau und seine Mutter werden in die Wohnung in Wien IX., Lazarettgasse 9/V/61, eingewiesen. Theodor Kramer wird auf der Straße beim Anstellen um eine der zahllosen Bescheinigungen, die für ein Verlassen des Deutschen Reiches nun benötigt werden, von einem SA-Mann in den Knöchel getreten; die Folge ist eine langwierige Sehnenscheidenentzündung. 

In diesen Monaten entstehen Gedichte, deren Titel bereits die bedrückenden Umstände dieser Zeit mehr als nur andeuten:

Nun ziehn die Leute überall zusammen … ;
Alles ist die Wohnung nun geworden;
Wer läutet draußen an der Tür;
Von der Angst;
Ich weiß, ich wär nicht fähig, auszureisen;
Es gingen mir plötzlich die Kräfte aus;
Ich suche Trost im Wort;
Abschied von einem ausreisenden Freund;
Ich bin soviel zu Haus und bin schon nicht mehr hier.

Dieses Gedicht „Requiem für einen Faschisten“ war für mich ein verstörendes Rätsel. Mit dieser durch den Essay von Stephan Hermlin und später durch die Vertonungen von Wenzel angestifteten Begegnung mit den Gedichten Theodor Kramers sollte eine Beschäftigung beginnen, die mich über die Lektüre hinaus, dazu brachte, wissen zu wollen, wo er gelebt und was er gesehen hatte, - ich vor seinem Geburtshaus in Niederhollabrunn stand und mit dem Fahrrad immer wieder Gegenden in der Nähe und Ferne seines Kindheitsortes besuchte.

Ich suche Trost im Wort

Text: Theodor Kramer
Musik: Rüdiger Bartsch

Ich suche Trost im Wort,
das niemals noch mich trog,
das von den Dingen mir
getreu den Umriß zog,
wie durch ein Blatt ein Kind
die Fibel für sich paust,
die Bilder und den Sinn,
der zwischen ihnen haust.

Auf heller Straße täuscht
Gebärde und Gesicht,
ich trau des Nachbars Gruß,
dem Wort des Freundes nicht;
ich traue selbst nicht dem,
was ich soeben sprach,
nur, was ich schreibe,
zieht, was feststeht, richtig nach.

Nur an Geringes will
vorerst ich wagen mich,
an Dinge, die im Schlaf
ich traf auf einen Strich,
vielleicht im Fenster dort
an Flügelpaar und Zweig,
ans Pflaster, das gekörnt
sich wölbt von Steig zu Steig.

Wie der Holunder sich
zur Zeit der Blüte spreizt,
das ist so schmerzlich klar,
daß es zu Tränen reizt;
das üb ich, das bewährt
dem Ohr sich auch im Klang:
zu sagen ist so viel,
nun ist mir nicht mehr bang.

Kino nach Tisch

Text: Theodor Kramer
Musik: Rüdiger Bartsch

Wenn die Sonne nach Tisch auf den Gehsteigen liegt
und der mürbe Asphalt unterm Absatz sich biegt,
ist es gut, in ein schäbiges Kino zu gehn
und dösend im muffigen Dunkel zu sehn,
wie es flirrt auf der Leinwand und flimmert.

Der Fußboden knarrt, das Parkett ist fast leer,
und die Luft ist von Stauböl und Leutgeruch schwer;
der finstere Saal schluckt das Straßengebraus,
und es nehmen die schläfrigen Augen kaum aus,
was da flirrt auf der Leinwand und flimmert.

Und es löst sich, was lange vergessen schon lag,
und was vor den Augen da auftauchen mag,
die Kringel und Fratzen, die nie wollen ruhn,
haben nichts, aber gar nichts mit dem mehr zu tun,
was da flirrt auf der Leinwand und flimmert.

Lied am Rand

Lied am Rand

Text: Theodor Kramer
Musik: Rüdiger Bartsch

Es frißt der Ruß bei uns am Rand
sich in die Zeile ein;
im Hinterhof ein Scherben Land
ist alles zum Gedeihn.
Wie bist du lieblich anzuschaun
in deiner Wangen Flaum;
ich bin aus schwarzem Holz der Zaun,
du bist der Apfelbaum.

Es liegt sich gut am Damm im Gras
zu Abend längs der Bahn;
die Drähte summen dies und das,
die Welt steht aufgetan.
Die Funken fallen in den Spelt,
rennt laut der Zug davon;
ich bin, was da verkohlt und fällt,
du bist der zarte Mohn.

Schwül ist bis lang nach Mitternacht
es zwischen Haus und Haus;
die Mauern strömen mehr als sacht
die Glut des Tages aus.
Es dreht sich das Akazienlaub
und schwebt durch die Allee;
ich bin, der an ihm frißt, der Staub,
du bist der süße Schnee.

Es ist schön

Text: Theodor Kramer
Musik: Rüdiger Bartsch

Es ist schön, wenn du spät im verfinsterten Raum
ins geglättete Bett zu mir kriechst
und mich anrührst mit deinem
kaum sichtbaren Flaum
und nach Seife und Pfefferminz riechst.
Deine Haut ist noch kühl,
deine Hände sind schwer;
und dein Mund gibt sich zögernd und tut
bei allem, als ob es das erste Mal wär,
und das, liebe Liebste, ist gut.

Es ist schön, wenn die Brust sich
dir hebt und sich senkt
und mich leise dein Atem weht an
und dein Leib sich mir nähert
und freundlich sich schenkt,
weil er einfach nicht anders mehr kann.
Die Nacht ist noch lang und um uns alles still,
in den Ohren rauscht leise das Blut;
und was du willst, will ich,
und du tust, was ich will,
und das, liebe Liebste, ist gut.

Es ist schön, wenn im Fenstergeviert 
sich der Schein
des Tages erhebt und mich weckt,
und die Hand läßt die Rundung
der Schulter nicht sein,
bis der Druck meiner Finger dich schreckt.
Süß und weh zugleich ist, was ich tu oder laß,
wenn dein Arm mich umfängt, uns zu Mut,
und ich küß vom Gesicht dir das salzige Naß,
und das, liebe Liebste, ist gut.

Im alten Gasthausgarten

Text: Theodor Kramer
Musik: Rüdiger Bartsch

Im alten Gasthausgarten
kommt durch den Zaun ganz zag
der Ruch von Hobelscharten
am frühen Nachmittag;
fern klappert noch ein Teller
und manchmal, wie ein Wisch,
fährt träge bald, bald heller
ein Lichtfleck übern Tisch.

Es spreizt sich das Gefieder
des Buchsbaums starr und stumpf,
ein Kästenblatt schwebt nieder,
das Holz der Bank riecht dumpf;
die Winden rolln die Tüten,
es häuft sich das Gemisch
von Staub und welken Blüten
und Borke auf dem Tisch.

Es schläft auf der Terrasse
verrankt der wilde Wein,
vergessen schläft die Tasse,
und selbst der Kies schläft ein;
es schläft sogar die Grille,
nur manchmal wie ein Wisch,
fährt in der großen Stille
ein Lichtfleck übern Tisch.

Die Uferschenke

Text: Theodor Kramer
Musik: Rüdiger Bartsch

Wo der Strom sich draußen in der Au verzweigt
und im toten Arm die Flut nicht sinkt noch steigt
und durchsetzt das Stromland,
steht von Kies und Schlamm,
steht die alte Schenke dicht am Straßendamm.

Grün sind die Staketen, grün das Bretterhaus,
breit geht die Terrasse auf den Strom hinaus;
mit den letzten Büscheln reicht das scharfe Ried
an den Pflock, in den sich dumpf
das Grundnaß zieht.

Auf den Bänken löffeln Fischer ihre Brüh,
aus der Stadt ziehn viele nach des Tages Müh,
rasten unterm Faulbaum lang am Brettertisch,
kosten gern die Zuspeis und zumal den Fisch.

Knirschend fährt die letzte Zille auf im Sand,
und der Abend legt sich lautlos übers Land;
nur der Strom zieht zwischen Stadt und Au einher,
wandert unergründlich, seltsam blaß und schwer.

Leise klopft die Hand und läßt das Glas nicht los,
und der Weißwein schmeckt
mit einem Mal nach Moos,
wenn er mit dem Fleisch des Karpfens
süß sich mengt,
dem die Petersilie aus dem Quermaul hängt.

Etwas schmeckt aus ihm,
das mit den Fischern eint,
mit dem toten Arm,
auf den der Mond schon scheint;
und wie sich`s so sitzt, schiebt über Glas und Frau
sich ein schwacher Nebel aus der dumpfen Au.

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